Im J. 1901 wurde eine bedeutsame Steuerreform eingeführt. Ihr geistiger Urheber war der damalige Rechnungsführer Alois Soudek. Nach dieser Reform wurde jedem Mitgliede der K. G. das Recht eingeräumt, dem Kultusgemeindevorstande bis November die staatl. Personaleinkommensteuer, d. h. die Zahlungsaufträge vorzulegen. Bei rechtzeitiger Vorlage des staatl. Zahlungsauftrages mußte automatisch die Einreihung des Zensiten in die diesem Nachweise entsprechemle Kultussteuerstufe erfolgen. Die allenfalls erst im Rekurswege erfolgte Nachweisung des staatl. versteuerten Einkommens war für die Rekursinstanzen der Gemeinde durchaus nicht bindend. Betreffs jener Mitglieder, welche den. staatl. Nachweis ihrer Personaleinkommensteuer nicht vorgelegt haben, erfolgte nach wie vor die Einkommenschätzung und dieser entsprechend die Vorschreibung durch die Umlagekonimission. Die Hauptgrundsätze dieser progressiven Steuer waren: Vollständige Steuerfreiheit für die Mittellosen, Entlastttng der wirtschaftl. Schwachen und strammere Heranziehung der wirtschaftlich Starken. Bezüglich der Steuerskala wurden 20 Stufen eingeführt. Das Maximum war mit 1000 K normiert. Diese Skala wurde unter Zugrundelegung der in der Gemeinde gegebenen tatsächlichen Verhältnisse, das durchschnittliche Jahreserfordernis, Anzahl der Steuerträger und durchschnittliches Einkommen derselben aufgestellt. Diese Steuerreform, die drei Jahrzehnte hindurch in Geltung war und jedem Zensiten die Gewähr bot, daß er, wenn er nur will, nicht der — sei es unbewußten, sei es vermeint, liehen Willkür der Umlagekommission und der übergeordneten Instanzen ausgesetzt sei und schon im voraus selber seinen statutarischen Kultussteuersatz bestimmen kann, war das Verdienst von Alois Soudek3"). Sein Reformwerk hätte vorbildlich für alle übrigen Gemeinden sein können. Aber der Gemeinde blieb es versagt, auf diesem Gebiete bahnbrechend zu sein, denn die Regierung hat sich eines anderen besonnen und die später eingereichten Statuten anderer Gemeinden, die diese neuen Steuerbestimmungen enthielten, nicht mehr bestätigt. Sie erblickte nämlich in dieser Reform einen Zuschlag zur Personaleinkomimen-steuer, den sie unter allen Umständen zu vermeiden suchte. Von dieser Doktrin ging nun bekanntlich erst vo-r zwei Jahren die staatl. Steuergesetzgebung ab. Im J. 1931 haben die Steuerstaffelung und besonders das Rekursverfahren eine dem modernen Rechtsempfinden entsprechende Novellierung erfahren. Es sind 44 Steuerklassen vorgesehen; die höchste Jahresschuldigkeit beträgt Kč 5000'—. Außer der Erhöhung der bisherigen Maximalgrenze ist das Wesenhafte dieser Reform hauptsächlich die grundlegende A n-d e r u n g des bisherigen Eekursverf all-r e n s, namentlich durch Schaffung einer besonderen Berufungskommission. Die Erledigung der Beschwerden gegen die Bemessung der Kultusbeiträge wird dem Wirkungskreise des engeren und weiteren Vorstandes entzogen. Die Berufungskommission besteht aus 11 Mitgliedern, von denen 5 vom Kultusgemeindevorstand für die ganze Funktionsdauer der Vertretung ernannt, 6 Mitglieder von den Geineindeange-hörigen gleichzeitig mit der Wahl des Kuhusgemein-denvorstand.es gewählt werden. Von den Mitgliedern der Berufungskommission dürfen nicht mehr als drei Mitglieder des Vorstandes sein und Mitglieder der Steuerkommission dürfen nicht gleichzeitig dier Be-rufungskommission angehören. Den Verhandlungen derselben kann auch der Steuerträger, dessen Rekurs Gegenstand der Verhandlung ist, beiwohnen, wie auch das Wort ergreifen. Er kann sich auch durch einen Bevollmächtigten, zu dem jeder der Kultusgemeinde R. angehörige Steuerzahler bestellt werden kann, vertreten lassen. Das aktive Wahlrecht war bis zum J. 1877 an die Erreichung des 25., von da an, an das 30. Lebensjahr geknüpft. Im J. 1931 wurde das aktive Wahlrecht den Steuerträgern vom vollendeten 21. Lebensjahre an zugesprochen. Im Sinne des staatl. Gemeindegesetzes haben das aktive Wahlrecht auch der Rabbiner, die Gemeindebeamten und die Gemeindediener. Das passive Wahlrecht ist an die Erreichung des 30. Lebensjahres und an die Bedingung geknüpft, daß die Gemeindemitglieder mindestens zwei Jahre innerhalb des Gemeindegebietes ihren Wohnsitz haben. Von 1895 bis 1920 bestanden zwei Wahlkörper. Den ersten Wahlkörper bildeten: a) Staats-, Landes- und öffentliche Fondbeamte, ferner an inländischen Universitäten graduierte Doktoren und der Rabbiner; b) diejenigen höher besteuerten wahlberechtigten Gememdemitglieder, die zusammen die eine Hälfte der direkten Kultusbeiträge zahlten und die Kantoren und! Lehrer. Jeder von den zwei Wahlkörpern wäshlte die Hälfte der Vorstandsmitglieder. Stellvertreter, Kassarevisoren und Mitglieder der Umlagskommission. Die Wähler eines Wahlkörpers waren berechtigt, auch Mitglieder eines anderen Wahlkörpers zu wählen. Zuerst wählte der zweite Wahlkörper und erst nach Bekanntgabe des Ergebnisses dieser Wahl, der erste Wahlkörper. Nach Friedensschluß beabsichtigte der Vorstand, dem. demokratischen Zuge der Zeit Rechnung tragend, die Neuwahlen im Juni 1919 in einem einzigen Wahlkörper durchzuführen. Sie mußten, jedoch über behördliche Weisung, da der Wahlakt in der geplanten Form ohne Statutenänderung als nicht zulässig erklärt wurde, noch in zwei Wahlkörpern vorgenommen werden. Die Verhältniswahlist nicht eingeführt. Zur Vermeidung von Wahlkämpfen erfolgt erfreulicherweise in der Regel eine Einigung der verschiedenen Vereinigungen und Parteien. Besondere Vorkommnisse. Eine entsetzliche Bluttat rief im J. 1876, weit über die Grenzen der Stadt hinaus, große Sensation hervor. Bei einer Pfändung tötete Isaac Ábeles, ein 50 jähriger betriebsamer Mann geringen Bildungsgrades, durch Messerstiche den Vertreter Eduard Pellheim. Nach dreitätiger Verhandlung, die vom Landesgerichtsrat Hartmann mustergültig geleitet wurde und die in manchem Betrachte auch ein unerfreuliches Sittenbild enthüllte, wurde Ábeles vc-m Schwurgericht zum Tode durch den Strang verurteilt. Er wurde dann zu 20 Jahren schweren Kerkers begnadigt und am 18. August 1889, dem Geburtstage des Kaisers, aus der Haft entlassen. Er verbrachte den Rest seines Lebens in stiller Zurückgezogenheit und starb im J. 1897 nach vollendetem 70. Lebensjahr. Die Verteidigung führte Notar Petak. Bei der Urteilspublikation im alten Ge-richtsgeba'ude Färbergasse brach Ábeles plötzlich ohnmächtig zusammen und wurde von Krämpfen befallen. Dieser Zwischenfall rief beim Publikum große Aufregung hervor. Nicht minder aufgeregt wurde der Umstand besprochen, daß, da gerade ein heftige« Gewitter niederging, die Verkündung des Urteils unter Donner und Blitz erfolgte. Das Volk konnte es mit Recht nicht begreifen, wie ein Jude sich soweit hinreißen konnte, einen anderen Juden zu ermorden. So entstand der Volksreim: „Die Sonne scheint bei Nacht, Der Mond am Tage, Der Jude Ábeles hat Pellheim umgebracht™)." Reichenbers :)0 558 Noch zweier Verbrechen .sei gedacht. Am 3. Oktober 1894 fiel die im 6. Lebensjahre stehende Olga, Tochter des Kaufmanns Julius F a n 11, einem Lustmord zum Opfer. Das Kind wurde unter ungeheuerer Beteiligung aller Volksschichten zu Grabe getragen. Am 3. November 1929 wurde auf einem Spaziergange auf einem frequentierten Waldwege an einem Sonntag Vormittag der 23 Jahre alte, ledige Prokurist Erwin Löwy durch Kopfschüsse getötet. Die Leiche wurde in Wien beigesetzt. Beide Morde blieben unaufgeklärt und ungesühnt. Für die Aufnahme des K. V. Liebitzky und des Joachim Deutsch in den Gemeindeverband stimmten trotz der warmen Befürwortung des Stadtrats Dr. Sieber in der Collegiumssitzimg vom 10. Februar 1866 von den Anwesenden 28 Stadtverordneten nur 10. Am nächsten Tage veröffentlichte hierüber die „R. Ztg." einen Leitartikel: «Die er;;te Probe hat der Liberalismus nicht bestanden. Eine Stadt wie R., ist engherzig genug, den ersten beiden Israeliten, die um Aufnahme in den Gemeindeverband baten, eine vollständig unmotivierte und unmöglich gehaltene Abweisung zu teil werden zu lassen. Irgend ein dunkles Gefühl, ein unerklärlicher Drang und naive Präjudiz muß zu der Ablehnung geführt haben, als sie in der zweiten Hälfte des 19. Jh. eine Entscheidung traf, die eigentlich um eine geraume Weile zu spät kommt. Der Grund liegt in der einfachen Form, die Bittsteller wurden zurückgewiesen, weil sie Juden sind." Joachim Deutsch, der sein Ansuchen erneuerte, wurde bald darauf das Bürgerrecht verliehen. Bis 1874 erwarben noch andere 8 Juden die Zuständigkeit'. Im Stadtverordnetenkollegium, einer Körperschaft, in der bisher nur sachliche Arbeit geleistet wurde, erfolgte ein antisemitischer Vorstoß. In der Sitzung vom 9. Dez. 1890 erklärte Stadtverord. Dr. Jennel, „daß die Zunahme der Rei-chenberger Bevölkerung wesentlich auf die Zuwanderung zweier fremder Volkselemente zurückzuführen sei, deren Vermehrung der Stadt nicht zum Vorteile gereiche, des einen nicht, weil es meist proletarische Existenzen zuführe, die auf den Arbeitsmärkt drücken und wie die Kriminalstatistik nachweist, auch das sittliche Durchschnittsgefühl beeinflussen; des anderen nicht, weil dessen Anwachsen und Wohlbefinden in einem Lantle oder Orte stets mit der Verarmung der einheimischen Bevölkerung Hand in Hand gehe." Diese Äußerung enthielt eine ungeheure Beleidigung der beiden Minoritäten der Stadt, der Čeohen und Juden. Erst durch eine Bemerkung in der „R. Ztg." seitens dieses Redners wurde man auf den Angriff gegen die Juden aufmerksam gemacht. Stadtverordneter Oscar Hasenöhrl wies in der nächsten Sitzung den Angriff auf die Israeliten, die auch in sprachlicher und nationaler Beziehung stets ihre Pflicht erfüllt haben, zurück und forderte den Bürgermeister auf, die angetane Beleidigung in entsprechender Weise zu sühnen. Auch Stadtverordneter K. V. Heinrich Langstein wies den Angriff zurück. Für seine mannhafte Abwehr wurde ihm in der nächsten Sitzung des Kultusgemeindevorstandes der Dank ausgesprochen. Die Antwort des Bürgermeisters, die er den beiden Interpellanten erteilte, war sophistisch. Er übersah völlig, daß die Äußerung des Dr. Jennel, wenn auch nicht in der Form, so doch in der Sache eine verallgemeinerte Beschuldigung und arge Beleidigung der Juden enthielt. Jahrelang zitterte noch in der Judenschaft von R. die Aufregung über diese Debatte im Stadtparlamente nach. Der Unwille hätte sich aber nicht nur gegen den Urheber, sondern auch gegen den damaligen Bürgermeister Dr. Schücker richten sollen. Sein Standpunkt war übrigens nicht zu verwundern. Denn das antisemitische Tagesblatt in R., die „Deutsche Volkszeitung", die vom Herbst 1885 bis Ende November 1919, also 34 Jahre erschien, betrachtete man allgemein als „Stadträtliches Organ". Noch zu Beginn der 90er Jahre trieb ein überspitzter Nationalismus sein Unwesen, indem dem, damaligen K. V., der obendrein Mitglied der Stadtvertretung und des Bezirksschulrates war, die Aufnahme in den Gemeindeverbaml versagt blieb und Juden aus paar Vereinen verdrängt wurden. Der Weltkrieg. Auch unsere Gemeinde brachte dem Vaterlande Opfer an Gut und Blut. 18 Söhne und Angehörige derselben haben im Weltkrieg ihr Leben fürs Vaterland geopfert. Es sind dies: Breslauer Ernst Lederer Oswald Deutsch Albrecht Lustig Emil Freudenfels Otto Mendl Arthur Hermann Arthur Nettl Hans Iltis Rudolf Nettl Richard Iltis Theodor Pollak Alfred Jerusalem Viktor Schallheim Oswald Kraus Alfred Winterberg Fritz Langstein Julius Dr. Winternitz Fritz. Ewigen Ruhmes Schimmer sei ihr Anteil! Der Erinnerung an die Gefallenen ist ein Heldendenkmal auf Ilelilendenkmal für die Gefallenen dem Friedhofe und eine Gedenktafel im Tempel gewidmet. Außerdem wird ihrer bei der Seelenfeier gedacht. Alle Kräfte sollten nur auf ein Ziel, den Sieg konzentriert werden. Deshalb wurde in der Gemeindevertretung die Vermeidung van Neuwahlen, die statutenmäßig Mitte September hätten stattfinden sollen, angestrebt. Demgemäß ersuchte der Vorstand, an dessen Spitze Dr. Willi. Fleischer stand, die Aufsichtsbehörde, die Neuwahlen erst drei Monate nach dem Friedensschluß einzuleiten und bis dahin die Geschäfte durch die derzeitige Vertretung fortführen zu lassen. 559 Reichenbera 31